Die Europäische Kommission hat am 28. Oktober 2015 ihre Binnenmarktstrategie vorgestellt. Das Papier mit dem Titel: „Den Binnenmarkt weiter ausbauen: mehr Chancen für die Menschen und die Unternehmen“ [KOM(2015) 550 final] nimmt dabei auch die Freien Berufe in den Fokus. Die neue Binnenmarktstrategie reiht sich somit ein in die bereits seit Längerem laufende Deregulierungsdiskussion.
Der BFB hat sich gleich zu Beginn im Rahmen eines Positionspapiers zu Freiberufler-relevanten Aspekten des Strategiepapiers geäußert. Wichtige Kernanliegen des BFB sind u.a. der Verbraucher- und Patientenschutz, Praktikabilität und Bürokratieabbau, die Berücksichtigung der besonderen Rolle von Freiberuflern, die Bewertung von Berufszugangs- und Berufsausübungsregelungen im jeweiligen nationalen Kontext, die Nicht-Normierbarkeit freiberuflicher Dienstleistungen sowie der Grundsatz, dass es kein Herkunftslandprinzip „durch die Hintertür“ geben darf.
Das Europäische Parlament hat am 26. Mai 2016 einen Initiativbericht zur EU-Binnenmarktstrategie angenommen. Der BFB hatte hierzu im Vorfeld Ergänzungen angeregt, die erfreulicherweise in den Bericht Eingang gefunden haben. Die Ergänzungen betreffen die Reform des Notifizierungsverfahrens (§ 85), den geplanten Dienstleistungspass (§ 88), als auch die BFB-Kernforderung, dass unterschiedliche Regulierungskonzepte nicht per se ein Hindernis für die Vertiefung des Binnenmarkts darstellen und Berufsreglementierungen zum Schutz von Gemeinwohl und Verbraucherschutz notwendig sein können sowie eine Bewertung derselben nur im jeweiligen nationalen Kontext sinnvoll ist (§ 95).
Dienstleistungspaket
Am 10. Januar 2017 hat die EU-Kommission das Dienstleistungspaket vorgestellt. Dieses enthält die Maßnahmen, welche in der EU-Binnenmarktstrategie angekündigt wurden. Die neuen Maßnahmen umfassen eine Mitteilung zu Reformempfehlungen bei bestimmten regulierten Berufen [KOM(2016) 820 final], einen Richtlinienvorschlag für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung bei zukünftigen Berufsregulierungen [KOM(2016) 822 final], einen Verordnungs- und einen Richtlinienvorschlag zur Einführung einer europäischen Dienstleistungskarte [KOM(2016) 823 final und KOM(2016) 824 final] sowie einen Richtlinienvorschlag zur Reform des Notifizierungsverfahrens [KOM(2016) 821 final]. Das Maßnahmenbündel wird den Rechtfertigungs- beziehungsweise den Deregulierungsdruck auf die Freien Berufe weiter erhöhen. Insbesondere das Zusammenwirken der Einzelinitiativen in der Praxis ist als bedenklich einzuschätzen. Immerhin war ein weiterer ursprünglich vorgesehener Legislativvorschlag zum Abbau regulatorischer Hindernisse (Beschränkungen bei Rechtsform, Fremdkapitalbestimmungen, multidisziplinärer Zusammenarbeit) offenkundig gegenwärtig politisch nicht durchsetzbar. Der BFB hat sich mit seinen Stellungnahmen zur Verhältnismäßigkeitsprüfung, zur Dienstleistungskarte, zur Reform des Notifizierungsverfahrens sowie zu den Reformempfehlungen für die Berufsreglementierung in die politischen Prozesse auf nationaler und europäischer Ebene eingebracht.
Am 21. März 2018 kam es im federführenden Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO) des Europäischen Parlaments zur Abstimmung über die Berichte zur Einführung einer Europäischen Elektronischen Dienstleistungskarte. Im Ergebnis hat sich der Ausschuss in der finalen Abstimmung mit unerwartet deutlicher Mehrheit dafür entschieden, keine Berichte zur Dienstleistungskarte anzunehmen, wodurch faktisch die Dienstleistungskarte im Europäischen Parlament gestoppt wurde. Formal wurden die Vorschläge der EU-Kommission allerdings nicht zurückgewiesen. Theoretisch könnte sich der IMCO-Ausschuss daher dafür aussprechen, auf Grundlage der Kommissionsvorschläge sich erneut mit dem Dossier zu befassen. Viel wahrscheinlicher dürfte es jedoch sein, dass es unter der jetzigen EU-Kommission keinerlei Entwicklungen mehr geben dazu wird und die Vorschläge zu einem späteren Zeitpunkt ganz zurückgezogen werden. Dies umso mehr, als sich der Rat der Europäischen Union in seiner ebenfalls skeptischen Haltung zu ebendiesen Vorschlägen bestätigt sehen dürfte. Dort hat es in der Sache seit Monaten keine substanziellen Fortschritte mehr gegeben. Der BFB begrüßt diese Entwicklung. Diese Vorschläge zur Einführung einer Dienstleistungskarte hätten lediglich zu mehr Bürokratie und Qualitätsdumping geführt.
Nach der Zustimmung von EU-Parlament und Rat über die Einführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung ist diese schließlich am 29. Juli 2018 in Kraft getreten. Die Mitgliedstaaten sind nun angehalten, innerhalb von zwei Jahren ihre jeweiligen nationalen Vorschriften an die Vorgaben der Richtlinie anzupassen. Im Folgenden die wichtigsten Punkte aus freiberuflicher Sicht:
- Es wird ausdrücklich festgehalten, dass es in der Zuständigkeit und dem Ermessen der Mitgliedstaaten liegt, ob und wie ein Beruf zu reglementieren ist, solange die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben. (Art. 1 i. V. m. ErwG. 18).
- Art. 4 Abs. 2 betont, dass die Verhältnismäßigkeitsprüfung ihrerseits im angemessenen Verhältnis zur Natur, dem Inhalt und den Auswirkungen der Vorschrift erfolgen sollte.
- Die Begründungspflicht, welche durch die Einführung bzw. die Änderung bestehender Rechts- und Verwaltungsvorschriften wird, wurde klarer und damit praktikabler gefasst (Art. 4 Abs. 3 und Abs. 4 i. V. m. ErwG. 13).
- Eine Mitwirkung unabhängiger Kontrollstellen ist nicht mehr vorgesehen (Art. 4 Abs. 5 i. d. F. des Vorschlags der EU-Kommission).
- Das Prüfkriterium einer zu prüfenden kumulativen Auswirkung im Sinne einer weiteren Hürde wurde gestrichen (Art. 7 Abs. 2 lit. f). Es wird nun vielmehr hervorgehoben, dass die zu prüfende Auswirkung einer neuen bzw. geänderten Vorschrift, in Kombination mit bereits existierenden Anforderungen, also vor dem Hintergrund des Regulierungskontextes, auch positiv sein kann (Art. 7 Abs. 3).
- Die Bedeutung der Gesundheitsberufe zur Gewährleistung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus wird hervorgehoben (Art. 7 Abs. 4 i. V. m. ErwG. 29).
Bei der Reform des Notifizierungsverfahrens sind die Trilogverhandlungen festgefahren. Nach gegenwärtigem Stand ist davon auszugehen, dass dieses Dossier bis auf Weiteres nicht zum Abschluss gebracht werden kann. Hauptstreitpunkt ist das verbliebene „Ex-Ante-Beschlussrecht“ der Europäischen Kommission. An diesem will sie unbedingt festhalten und lehnt daher den Kompromissvorschlag einer Reihe von Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, ab, die sich für ein „verschärftes Empfehlungsrecht“ stark machen. Der BFB teilt diese Vorstellung. Das von der EU-Kommission angedachte Beschlussrecht ist primärrechtlich fragwürdig.